Besser sehen - besser lernen ?
Gestörtes beidäugiges Sehen und Schulversagen
Dr. med. Uwe Wulff
Immer wieder ein Rätsel sind speziell in der Grundschule die Kinder, die trotz normaler bis guter Intelligenz und Unterstützung durch das Elternhaus in der Schule unerwartet schlecht abschneiden.
Insbesondere Kinder mit Konzentrationsschwäche und deutlichen Auffälligkeiten beim Lesen und Schreiben erweisen sich oft als weitgehend förder- und therapieresistent.
Der Aufwand für die Förderung dieser Kinder steht in keinem Verhältnis zum Erfolg der Maßnahmen. Dies war mit ein Grund dafür, dass die in Berlin in den 70er Jahren entstandene “Le- gasthenie-Förder-Euphorie” schnell der Ernüchterung wich. Der Begriff “Legasthenie” wurde ersatzlos aus dem amtlichen Vokabular der Gründe für besondere Förderung von Schülern gestrichen.
Die Legasthenie wird auch bezeichnet als Lese-Rechtschreib-Schwäche (LRS) oder als Störung von Lesen und Rechtschreibung bei normaler Gesamtintelligenz (Teilleistungsschwäche) infolge auditiver und visueller Wahrnehmungsstörungen (auditiv: das Hören betreffend, visuell: das Sehen betreffend).
Die Ursachen der Legasthenie sind ungeklärt und deshalb gibt es bisher auch keine ursächliche Therapie und Heilungsmöglichkeit. Es wird je nach bestehenden Auffälligkeiten eine symptomatische Therapie empfohlen, die zu einem erfolgreicheren Lernen führen soll.
Der Hinweis auf bestehende visuelle Wahrnehmungsstörungen hat schon seit etwa drei Jahrzehnten dazu geführt, dass in Einzelfällen bei Kindern mit Auffälligkeiten beim Lesen und Schreiben alle bestehenden Sehfehler in der Zusammenarbeit beider Augen genau gemessen und mit speziellen Prismenbrillen korrigiert wurden. Dieses Vorgehen erfolgte ohne Berücksichtigung, ob eine ärztlich diagnostizierte Legasthenie vorlag oder nicht.
Die daraus gesammelten positiven Erfahrungen führten langsam und von der Öffentlichkeit zunächst unbemerkt zu einer Neubewertung des erheblichen Einflusses solcher Fehler des beidäugigen Sehens auf die vorschulische und schulische Leistungsfähigkeit.
Zufällig kamen dann im Schuljahr 1991 Lehrer einer Berliner Grund-schule im Zusammenhang mit der Suche nach Hilfe für zwei Kinder, deren Lese- und Schreibfähigkeiten im zweiten Schuljahr immer schlechter statt besser wurden, auch in Kontakt mit einem Berliner Augenarzt, der seit mehr als zwei Jahrzehnten Störungen des beidäugigen Sehens mit Prismenbrillen korrigiert. Die beiden Kinder waren zwar Brillenträger, schienen aber dennoch weiterhin erhebliche Sehstörungen zu haben. Wie sich dann herausstellte, hatte das eine Kind mit der alten Brille noch eine Restsehfähigkeit von 20 . Eine Hornhautverkrümmung war nicht korrigiert. Das andere Kind trug Gläser wegen angeblicher Übersichtigkeit. Es war aber nicht übersichtig, sondern hatte mit einer vorher nicht erkannten und die Wahrnehmung erheblich behindernden Winkelfehlsichtigkeit zu kämpfen (Erläuterung dieser Störung des beidäugigen Sehens erfolgt weiter unten). Vier Wochen nach Verordnung einer diesen Sehfehler korrigierenden Prismenbrille kam der Vater, um sich darüber zu “beschweren”, dass das Einkaufen-Gehen mit seinem Sohn jetzt nicht mehr eine halbe Stunde, sondern drei bis vier Stunden dauert: Sein Sohn sei von den Regalen nicht mehr wegzubekommen, er wolle den Text auf allen Verpackungen lesen.
Seitdem werden in größerem Umfang, verursacht auch durch die Versendung eines Informationsbriefes des Berufsverbandes der Augenärzte an alle Schulen, von betroffenen Eltern, Lehrern, Ergotherapeuten und Kinderärzten teilweise überraschende, jedenfalls aber zunehmend ermutigende Erfahrungen über die Auswirkungen der vollständigen Korrektion der Winkelfehlsichtigkeit auf das Lern- und Leistungsverhalten von Schülern gesammelt.
Auffälligkeiten der Kinder
Feinmotorik und Schreiben
- Ungeschicklichkeit und Entwicklungsrückstand beim Malen, Ausmalen und Ausschneiden (eckig, übermalen, schlechte Positionierung einzelner Elemente und ähnliches).
- Vermeidungshaltung bis Abwehrhaltung gegenüber Malen und Schreiben bis hin zu aggressiven Handlungen gegenüber der Arbeit anderer Kinder.
- Krakelige Handschrift, ungleichmäßig große Buchstaben, schlechte Linienhaltung.
- Unsystematische Rechtschreibfehler (Flüchtigkeitsfehler), ausgelassene oder verdoppelte Buchstaben, Vertauschen benachbarter Buchstaben, Verwechseln ähnlicher Buchstaben (b und d), länger oder häufiger spiegelbildliches Schreiben. Beim Abschreiben werden ganze Wörter oder Zeilen ausgelassen oder verdoppelt.
- Fehlende Ausdauer und Konzentrationsfähigkeit.
- Verlangsamte Tätigkeit (für drei Wörter wird eine Stunde benötigt) oder schnell - oberflächlich - ungenau.
Grobmotorik
- Oft schon in der Kleinkindzeit Auffälligkeiten in der Grobmotorik. Unsicherheit bei Ballspielen, Bewegungs- und Koordinationsprobleme, gestörte räumliche Orientierung, verlangsamte Bewegungen. Manchmal besteht eine so ausgeprägte Hypermotorik, dass dann sogar eine medikamentöse Therapie empfehlenswert sein kann.
Lesen
- Lesen von Wörtern, die nicht im Text stehen.
- Auslassen oder Doppeltlesen von Wörtern oder ganzen Zeilen.
- Langwieriger Übergang zum sinnentnehmenden Lesen.
- Schnelles Ermüden, ohne dass dies subjektiv benannt werden kann.
- Ausdauer-, Motivations- und Konzentrationsprobleme.
- Probleme, einen Text mit einmaligem Lesen inhaltlich zu verstehen. Dagegen oft keine Probleme, wenn derselbe Text vorgelesen wird.
- Im allgemeinen lesen die Kinder entweder ungern, nicht freiwillig oder sie benötigen spätestens nach ein paar Seiten eine Pause. Sie können keine Sehprobleme beim Lesen beschreiben, sondern finden Lesen ein- fach “doof” oder “langweilig”.
Rechnen
- Meist überraschend wenig Probleme im Vergleich zum Lesen und Schreiben. Oft sehr gute Kopfrechen- Fähigkeiten bei ziemlich katastrophaler Heftführung. Manchmal aber auch massive Störungen in der Entwicklung des Zahlenverständnisses und der Mengenvorstellung, wofür als Erklärung das “Durcheinanderrutschen” der Einzelbilder der beiden Augen in der Phase der Entwicklung grundlegender Mengenvorstellungen (2. bis 4. Lebensjahr) denkbar ist.
- Den Lehrern und Eltern unverständlich ist bei den Kindern, die zunächst im Rechnen immer gut waren, das weitgehende Versagen bei Textaufgaben, auch bei solchen, die vom mathematischen Gehalt her keine höheren Anforderungen stellen. Bestehende Auffälligkeiten beim Lesen wirken sich hier erst zu diesem Zeitpunkt deutlich aus.
Verhalten
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Problematisches Leistungsverhalten mit den unterschiedlichsten Ausprägungen. Die üblichen Charakterisierungen dieser Kinder in Elterngesprächen:
- “Er kann ja, wenn er will” (nur: er will so selten … )
- “Er muss lernen, sich zu konzentrieren”
- “Zappelphilipp” oder “Klassenclown”
- “Wenn man neben ihm sitzt und ihn immer wieder ermuntert, geht es ja”
- “Sooo verträumt” (aber auch: “sooo verspielt”) .
- “Wenn gearbeitet werden soll, fallen ihm immer tausend andere Dinge ein”.
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Gelegentlich werden diese Kinder wegen ihrer isolierten Leistungsausfälle bei normaler Intelligenz in die ja leider nicht einheitliche Kategorie MCD (Minimale Cerebrale Dysfunktion) eingeordnet. Hirnorganische Defekte sind bisher nicht nachgewiesen worden (höchstens gelegentlich Hinweise auf verstärkte Durchblutung im Bereich des Seh- und Hörzentrums, insbesondere bei Kindern mit begleitender Kopfschmerz-Problematik). Relativ typisch ist eine große Diskrepanz zwischen gutem Sachwissen und reger mündlicher Beteiligung bei gutem Merkvermögen einerseits und großen Problemen in Stillarbeitsphasen, bei der Erledigung von Hausarbeiten und schriftlichen Arbeitsaufträgen andererseits. Überwiegend finden sich mehrere der beschriebenen Symptome. Selten sind beispielsweise “Leseratten” mit isolierter Rechtschreibproblematik oder Kinder, die in der Schule in allen Bereichen gute Leistungen zeigen, von denen die Eltern aber berichten, dass sie nach der Schule entweder überdreht oder völlig erschöpft sind.
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Bei den von großen Schulproblemen betroffenen winkelfehlsichtigen Kindern ist bis zur Brillenkorrektion im allgemeinen ein “umgekehrter Übungseffekt” beobachtbar: Je mehr geübt wird, desto schlechter werden die Leistungen.
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Bei manchen Kindern entwickeln sich erst im Laufe der Grundschulzeit Probleme. Es kann sich eine Winkelfehlsichtigkeit erst im Zusammenhang mit dem Wa9hstum ergeben haben. Oder die zentral nervösen Kompensationsfähigkeiten können bei zunehmenden Anforderungen der Schule nachlassen. Diese Kinder haben also zunächst gut Lesen und Schreiben gelernt. Dann zeigt sich in der 4. oder Anfang der 5. Klasse eine überraschende und drastische Verschlechterung der Rechtschreibleistung und Konzentrationsfähigkeit. Nach Brillenkorrektion der Winkelfehlsichtigkeit erfolgt spontanes und vollständiges Wiedererlangen des alten Standes. Bei einigen Schülern sind dann Diktate mit zunehmenden Fehlern ein zuverlässiger Indikator für die Notwendigkeit einer Nachkorrektion der Prismengläser.
Anstrengungsbeschwerden
- Relativ häufig bestehen augenbedingte Kopfschmerzen, die oft auch in der Familie vorkommen. Sie sind oft mit starker Lichtempfindlichkeit während der Kopfschmerz-Phase verbunden. Leider werden Kopfschmerzen bis zu einmal wöchentlich als “normal” oder nicht erwähnenswert angesehen. Hier empfiehlt sich genaueres Nachfragen. Kinder, die außerhalb fiebriger Erkrankungen zu Kopfschmerzen neigen, haben zu oft welche.
- Neigung zu Übelkeit und Schwindel.
- Neigung zu roten Augen, besonders nach der Schule und abends.
- Neigung zu Augenblinzeln, Augenzucken, Augenkneifen, Augenreiben. Neigung zu trockenen Augen oder zu verstärktem Tränenfluss, Druckgefühl in Augennähe.
- Kinder mit Winkelfehlsichtigkeiten in vertikaler Richtung neigen oft zu leichter bis deutlicher Schiefhaltung des Kopfes, teilweise mit Beschwerden im Bereich der Halswirbelsäule. Diese sind orthopädisch nachweisbar und halten dann als einleuchtende Erklärung für die Kopfschmerzen her.
Allgemeines
- Eigenartigerweise reagieren verschiedene Kinder auf die gleiche Winkelfehlsichtigkeit mit völlig unterschiedlichen, teilweise gegensätzlichen Auffälligkeiten. So kann ein Kind hypermotorisch sein, das andere stark verlangsamt oder sogar apathisch. Es gibt bisher keinen Vorsorgetest, mit dem eine Winkelfehlsichtigkeit festgestellt werden kann, zumal jedes Kind unter einer anderen Kombination von Auffälligkeiten zu leiden hat. Auf der letzten Seite dieser Arbeit sind zwei kurze Teste abgedruckt, die zumindest Hinweise auf eine zu korrigierende Winkelfehlsichtigkeit geben können. Ein recht sicherer Hinweis auf Winkelfehlsichtigkeit ist das gleichzeitige Bestehen von Kopfschmerzen und gestörter Feinmotorik (Handschrift, Rechtschreibung).
- Die Bandbreite der Auffälligkeiten der betroffenen Kinder entspricht exakt der, die als Begleitsymptomatik bei Legasthenikern seit langem bekannt ist. Da außerdem Einäugige fast nie von Lese-Rechtschreib-Problemen betroffen sind, kann wohl davon ausgegangen werden, dass die oben beschriebenen Auffälligkeiten tatsächlich überwiegend von Fehlern des beidäugigen Sehens oder einer gestörten Zusammenarbeit der Augen ausgelöst werden. Es sollte nach unseren Erfahrungen gerade auch bei Legasthenie-Kindern eine vorhandene Winkelfehlsichtigkeit versuchsweise mit einer Prismenbrille korrigiert werden. Eine Legasthenie kann nicht geheilt werden. Es zeigt sich jedoch, dass es in nicht wenigen Fällen zu einer deutlichen Verminderung der Auffälligkeiten kommt. In Einzelfällen konnte sogar die Diagnose Legasthenie zurückgenommen werden.
Unter den nicht ihrer Intelligenz entsprechend leistungsschwachen Schülern, die von Lehrern, Schulpsychologen, Ergotherapeuten und Kinderärzten zur Untersuchung geschickt wurden, sind bisher nur 5%, bei denen kein oder ein nicht vollständig korrigierter Sehfehler gefunden werden konnte. Die Erfolgsquote der mit Prismenbrillen korrigierten winkelfehlsichtigen Kinder liegt bei etwa 65%, d. h. in diesen Fällen werden deutlich merkbare Verbesserungen der Auffälligkeiten erreicht. Bestehende Kopfschmerzen als Zeichen augenbedingter Anstrengungsprobleme werden in etwa 90 der Fälle behoben.
Winkelfehlsichtigkeit und Unterschiede zum sichtbaren Schielen
Beidäugiges Sehen bezeichnet die Fähigkeit des Menschen, mit beiden Augen gleichzeitig auf dieselbe Stelle zu schauen und die zwei von den bei-den Augen gelieferten Bilder zu einem räumlichen Gesamtbild zusammenzufügen. Dazu muss das Bild eines betrachteten Punktes in beiden Augen genau auf der Netzhautmitte abgebildet werden.
Unter dem Begriff Winkelfehlsichtigkeit versteht man, ähnlich wie beim Schielen, ein Ungleichgewicht in der Bewegungsmuskulatur beider Augen. Dies kann man sich vereinfacht wie ungleich lange Zügel eines Pferdepaares vorstellen. Lenkt der Kutscher nicht ständig korrigierend dagegen, dann laufen die Pferde nicht in die gleiche Richtung.
Der Kutscher ist beim Menschen das Gehirn, welches die Längenunterschiede durch aktives Gegensteuern ausgleicht. Dem Winkelfehlsichtigen ist deshalb das Augenmuskelungleichgewicht nicht anzusehen. Er müsste eigentlich schielen. Dies tut er aber nicht. Sein Gehirn steuert immer gegen, um die Parallelstellung der Augen und damit das beidäugige Sehen aufrechtzuerhalten. Bei Ausfall (z. B. durch Überanstrengung) dieser Kompensation kann eine Winkelfehlsichtigkeit zeitweise oder dauernd zum Schielen werden. Das Ausgleichen selbst stellt auch bei kleinsten Fehlern eine erhebliche Dauerbelastung für den Körper dar und führt dann auffallend oft zu Anstrengungsproblemen, wie Kopf-, Augenschmerzen und Konzentrationsschwierigkeiten.
Die Messung der Winkelfehlsichtigkeit erfolgt nicht in Winkelgrad, sondern in Prismen. Eine Winkelfehlsichtigkeit von 10 Prismen bedeutet: Wird mit einem Auge ein Punkt in einem Meter Entfernung fixiert, “will” das andere Auge 10 cm daneben schauen. Und das Gehirn muss entsprechende Energie aufwenden, um diesen Fehler auszusteuern.
Winkelfehlsichtigkeiten, die zeitweise nicht kompensiert werden, also manchmal zu sichtbarem Schielen führen, werden häufig als “Silberblick” oder “interessanter Blick” verniedlicht. Eltern, die bei Vorsorgeuntersuchungen ihres Kleinkindes das Empfinden äußern, das Kind schiele leicht nach innen, erhalten meist die Auskunft, dass der Eindruck täusche, weil beim Kleinkind der Nasenrücken so breit sei. Und bei Hinweisen auf gelegentliches “Wegrutschen” eines Auges (vor allem beim müden Kind) wird ihnen oft gesagt, dass das beim Kleinkind normal sei und meist von selbst weggehe.
Die erste Auskunft ist zu oft falsch. Haben die Eltern den Eindruck, dass das Kind schielt, dann ist das häufig auch richtig. Die zweite Auskunft kann richtig und falsch sein. Der zeitweise schielende Säugling kann innerhalb der ersten Monate lernen, ein eigentlich vorhandenes Ungleichgewicht in der Augenbewegungs-Muskulatur durch Anstrengung eines oder mehrerer Muskeln zu kompensieren und damit zusammenpassende Seheindrücke in beiden Augen zu erreichen (Doppelbilder zu vermeiden). Schafft er das, ist ihm zwar die Fehlstellung nicht mehr anzusehen, das Ungleichgewicht der Augenmuskeln ist jedoch weiterhin vorhanden und erfordert viel Kraft vom Gehirn und damit vom ganzen Körper.
Kinder mit sichtbarem und stabilem Schielfehler haben anders als die Kinder mit Winkelfehlsichtigkeiten häufig nur geringe schulische Probleme. Dies ist wohl dadurch erklärbar, dass das Gehirn dieser Kinder entweder ein Auge weitgehend abgeschaltet hat (Sehfähigkeit auf dem schielenden Auge dann oft nur noch 10 bis 40) oder dass eine sogenannte falsche Zusammenarbeit entwickelt wurde. Hierbei kommt es zu einer Verlagerung der Richtungswahrnehmung in dem schielenden Auge: Nicht mehr das, was auf die Netzhautmitte dieses Auges abgebildet wird, hat den Richtungswert “geradeaus”, sondern das, was ein Stück daneben abgebildet wird. Konsequenz ist beschwerdearmes, sichtbares Schielen, allerdings mit erheblich verminderter Sehleistung des schielenden Auges, da in ihm das Bild des angeschauten Punktes an einer Stelle mit geringerer Sehleistung liegt. Diese Schielkinder werden nie ein gutes räumliches Sehen haben.
Haben Schielkinder allerdings wechselnd große Schielwinkel (z. B. bei Müdigkeit zunehmend), dann können auch sie erhebliche Auffälligkeiten der Grobmotorik und Feinmotorik aufweisen.
Kinder mit Winkelfehlsichtigkeit sind von der Augenstellung her unauffällig, weil sie das Muskelungleichgewicht aktiv ausgleichen. Sie bestehen überwiegend alle Reihen- und Vorsorgeuntersuchungen einschließlich der Teste auf beidäugiges und räumliches Sehen. Das wertet diese wichtigen Vorsorgeuntersuchungen überhaupt nicht ab. Aber nur, wenn die Grenzen solcher Teste bekannt sind, kann verhindert werden, dass eine Winkelfehlsichtigkeit erst so spät entdeckt und korrigiert wird, wenn in der Schule bereits alles “falsch gelaufen” ist.
Winkelfehlsichtige Kinder fallen eigentlich oft schon vor Schuleintritt auf. Eines der frühesten und deutlichsten Merkmale ist die Unlust oder Unfähigkeit zum Malen, Ausmalen und Ausschneiden. Nachfolgend während der Schulzeit können sie mit recht hoher Sicherheit an der Art ihrer Auffälligkeiten erkannt werden. Da Winkelfehlsichtigkeiten oft vererbt werden, kann eine Befragung der Eltern über bei ihnen bestehende Auffälligkeiten zusätzliche Hinweise geben.
Es scheint keinen direkten Zusammenhang zwischen der Größe der Winkelfehlsichtigkeit und der Heftigkeit der Probleme zu geben. Es gibt Kinder, die mit einer sehr kleinen Winkelfehlsichtigkeit sehr große Auffälligkeiten haben und andererseits Kinder, die bei großer Winkelfehlsichtigkeit recht unauffällig sind.
Korrektionsmöglichkeit der Winkelfehlsichtigkeit
Die erfolgreichsten und schnellsten Veränderungen ergeben sich bei Kindern, bei denen auch kleinste Winkelfehlsichtigkeiten bereits im 5. bis 7. Lebensjahr mit Prismenbrillen korrigiert werden.
Das dazu notwendige Meßverfahren wurde zunächst Polatestmethode genannt. Seit einigen Jahren wird die Durchführung in verbindlichen Richtlinien vorgeschrieben. Verantwortlich dafür ist die Internationale Vereinigung für Binokulare Vollkorrektion. Das Verfahren heißt jetzt offiziell: Meß- und Korrektionsmethodik nach H.-J. Haase, in der Kurzform “MKH-Methodik”.
Die nach dieser Methode mit Prismenbrillen versorgten Kinder fallen oft durch eine die Eltern überraschend hohe Bereitschaft zum Tragen der Brille auf. Anscheinend ist dagegen eine Brille, die dauerhaft ungern getragen wird, mit großer Wahrscheinlichkeit nicht mehr richtig, nicht notwendig oder falsch. Perspektiven der mit Prismenbrillen korrigierten Kinder
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Schnelle Erfolge innerhalb von 3 bis 6 Monaten gibt es meist nur, wenn mit der ersten Prismenbrille bereits in der Vorschule oder zumindest in den ersten beiden Schuljahren begonnen wird:
- besseres Malen, Ausmalen, Ausschneiden
- Entwicklung von Freude am Lesen und Schreiben
- Verbesserung der Konzentrationsfähigkeit und Ausdauer
- Erhöhung der Belastbarkeit - Reduzierung von Vermeidungshaltungen und Zappligkeit
- Verbesserung der motorischen Koordination
- Stabilisierung des Selbstwertgefühls
- Zusätzliche Übungen machen Spaß und geben Sinn, da sie jetzt zu Erfolgen führen.
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Mittel- bis langfristige Erfolge sind innerhalb von einem bis zwei Jahren zu erwarten, wenn mit der ersten Prismenbrille erst nach dem zweiten Schuljahr begonnen wird:
- Verbesserung des Schriftbildes (Linie halten, gleichmäßige Größe der Buchstaben)
- Verringerung der unerklärbaren Rechtschreibfehler
- positive Veränderungen im Sozial- verhalten
- eine runde und ausgewogene Handschrift wird oft nicht mehr erreicht.
Es ist also wichtig: Je früher betroffene Kinder die richtige Prismenbrille bekommen, desto schneller stellen sich die positiven Effekte ein.
Optimal wäre daher eine sorgfältige Beobachtung im Kindergarten, in der Vorschule und im ersten Schuljahr. Eltern mit einem “Silberblick” können direkt nach Auffälligkeiten ihrer Kinder angesprochen werden. Es kann das Schriftbild und die Rechtschreibung älterer Geschwister kontrolliert werden.
Bei einigen Kindern, die etwa Ende der dritten Klasse erstmals eine korrekte Brillenversorgung hatten, konnte beobachtet werden, dass die Neigung zu Rechtschreibfehlern im Deutschen blieb, während die ab der fünften Klasse neu eingeführte Fremdsprache weitestgehend fehlerfrei geschrieben wurde. Es sieht also so aus, als seien die Handschrift und das falsch gelernte und instabile Erscheinungsbild der Wörter als stabiles Muster im Gehirn abgelegt.
Da diese Kinder mit der Brillenversorgung die Möglichkeit erhalten, durch Übung zu lernen, ist bei ihnen der Spielraum für pädagogische Maßnahmen stark erweitert. Sinnvolle Maßnahmen sind dann ein zeitlich befristetes Nichtbewerten der typischen Fehler, verstärkter Förderunterricht, Unterstützung des Lesens von Büchern mit zunächst geringem Schriftanteil (Comics oder ähnliches). Auch ergotherapeutische Maßnahmen zur Behebung von Motorik-Störungen oder verhaltenstherapeutische Maßnahmen können jetzt besonders erfolgreich sein.
Kinder, bei denen sich mit der Prismenbrille keinerlei positive Auswirkungen zeigen, sind die Ausnahme. Fast genauso selten sind schlagartig massive Verbesserungen beobachtbar. Das ist auch nicht anders zu erwarten . Um wenigstens einigermaßen beidäugiges Sehen erlernen zu können, hat das Augenpaar der winkelfehlsichtigen Kinder über Jahre hinweg zunehmend fest verankerte Kompensationsmechanismen entwickelt. Nach Korrektion der Winkelfehlsichtigkeit muss das Augenpaar erst lernen, mit den plötzlich besser zueinander passenden Seheindrücken umzugehen. Auch die durch die vielfachen Enttäuschungen (vor allem in der Schule) und die häufige Kritik an ihrer mangelnden Konzentration und Arbeitslust entstandenen resignativen oder aufbegehrenden Einstellungen und Verhaltens- weisen lassen sich nicht von heute auf morgen verändern. Bemerkungen zur Therapie durch Sehschulen
Sehschulen haben ihren Namen zu einer Zeit bekommen, als noch die Hoffnung bestand, Schielfehler durch Schulung oder Training beheben zu können. Der Begriff Sehschule wird auch weiterhin benutzt, obwohl die Erfahrung gezeigt hat, dass Schielfehler nicht wegtrainiert, sondern fast ausschließlich nur operativ behoben werden können.
Heutzutage wird nur noch in sehr wenigen Fällen ein solches Training versucht. Dies kann zwar das Augenmuskelungleichgewicht nicht verändern, aber es kann einem Kind mit Winkelfehlsichtigkeit in Einzelfällen zeitweise Entlastung verschaffen, ähnlich wie Gymnastik und Massagen bei einem Menschen mit einem zu kurzen Bein. Ob es statt dieser Schulungsmaßnahmen nicht sinnvoller ist, dem einen ein Prismenglas zu verschreiben und dem anderen einen Schuh mit dickerer Sohle, ist dabei die entscheidende Überlegung. So schreibt Hilke Oberländer, die Leiterin einer Sehschule in einer Zeitschrift für Lese- und Rechtschreibschwäche (1997):
Nicht korrigierte Abweichungen im ein- und beidäugigen Sehen können auch bei Kindern und Jugendlichen die Sehsituation und das Lernen belasten. Es müssen daher auch geringe Fehler ausgeglichen werden. Nur so werden die besten Voraussetzungen für das Sehen geschaffen. Dies hat positive Auswirkungen auf den Leseakt und den Leselernprozeß.
Hinweise zur Prismenkorrektion mittels MKH
Die Winkelfehlsichtigkeit wird durch exakt ausgemessene Prismengläser ausgeglichen. Dieses Verfahren (MKH- Methodik) beinhaltet wegen der Korrektion der eigentlichen Ursache eines meist angeborenen Sehfehlers große Möglichkeiten, aber auch einige Probleme:
- Da diese Methode einen extrem hohen Lern- und Übungsaufwand des Prüfers erfordert und wegen noch fehlender schulmedizinischer Anerkennung kein Bestandteil der normalen augenmedizinischen Ausbildung ist, stehen bisher für dieses seit etwa 40 Jahren erfolgreich angewendete Verfahren nur sehr wenige Fachleute zur Verfügung.
- Bei der ersten Messung wird bei Winkelfehlsichtigkeiten wegen der “fest eingefahrenen” Kompensationsmechanismen und des veränderten Muskeltonus fast immer nur “die Spitze des Eisberges” gefunden. Es sind oft einige Nachuntersuchungen mit Veränderungen der Prismengläser erforderlich, bis die volle Größe der Winkelfehlsichtigkeit erfasst werden kann.
- Es gibt Umstellungsprobleme bei erstmaligem Tragen der Prismenbrille, da sie einen Eingriff in alles bisher vom Gehirn für die Augensteuerung Gelernte darstellt. Werden diese ersten Stunden bis Tage überstanden, wird die Richtigkeit der Brille schnell daran erkennbar, dass die Kinder “brillensüchtig” werden und sich erste positive Veränderungen einstellen. Sollten sich diese Erfolge nach einiger Zeit wieder vermindern, dann wird eine Nachkontrolle erforderlich, in der sich meist die Notwendigkeit neuer Prismengläser herausstellt.
- Wenn der kompensierte Winkelfehler sehr groß ist, kann er hinter den Brillengläsern sichtbar werden. Es ist jedoch nicht richtig, dass eine Prismenbrille zum Schielen führt, wenn dies auch zuweilen fälschlich behauptet wird. Zutreffend ist, dass der vorher nicht sichtbare Sehfehler nur hinter der Prismenbrille zu sehen ist. Nach Absetzen der Brille verschwindet dieser Effekt, da dann das Gehirn wieder automatisch anfängt, die Winkelfehlsichtigkeit zu kompensieren.
- Manchmal sind die Winkelfehlsichtigkeiten zu groß, um sie dauerhaft mit entsprechend dicken Prismengläsern korrigieren zu können. In diesen Fällen kann dann problemlos eine Augenmuskeloperation durchgeführt und damit der Fehler direkt am “Ursprungsort” behoben werden.
Oft wird noch die Ansicht verbreitet, dass Winkelfehlsichtigkeiten bis etwa 5 Prismen keine Störungen verursachen, deshalb harmlos sind und nicht korrigiert werden müssen. Dies ist nach den Erfahrungen, die in den letztden vier Jahrzehnten gemacht wurden, nicht haltbar. Zudem wird oft vergessen, dass der bei einer ersten Untersuchung gefundene Wert oft nie “die volle Wahrheit” ist. Im offiziellen Mitteilungsblatt des Berufsverbandes der Augenärzte Deutschlands (Der Augenarzt, 4. Heft 1997) wird ausdrücklich berichtet, dass … Kinder- und Augenärzte vereinbarten, bei Legasthenie- Kindern auch geringste Refraktionsfehler auszugleichen, um auch die therapeutische Wirkung der Brille an sich auszunützen.
Fachleute, die sich mit der Korrektion der Winkelfehlsichtigkeit bei auffälligen Kindern auskennen, empfehlen den Versuch mit Prismenbrillen, die nach der MKH-Methodik ermittelt wurden, um festzustellen, ob sich damit die bestehenden Auffälligkeiten deutlich vermindern. Zeitpunkt der Korrektion
Auch Sehen muss erlernt werden! Dies geschieht größtenteils in den ersten beiden Lebensjahren. Bis zum Alter von sechs Jahren ist dieser Lernprozeß vollständig abgeschlossen. Frühzeitige Diagnose und Therapie ist dann wichtig, wenn sichtbare Schielfehler bestehen oder Auffälligkeiten im Verhalten des Kindes Winkelfehlsichtigkeiten vermuten lassen. Bei einem Schielfehler wird sich ohne Therapie kein gutes beidäugiges Sehen entwickeln. Es kommt meist zum befürchteten einäugigen Sehen durch “Abschalten” des sichtbar schielenden Auges und das ist leider im Regelfall nach dem zweiten Lebensjahr nicht mehr zu beheben.
Die winkelfehlsichtigen (also nicht sichtbar schielenden) Kinder stellen dem gegenüber ein kleineres Problem dar. In den ersten beiden Lebensjahren haben sie ihren Fehler kompensiert und damit auch meist beidäugiges Sehen gelernt. Bei ihnen wird dann eine Prismenbrille notwendig, wenn sich die für eine Winkelfehlsichtigkeit typischen Auffälligkeiten einstellen und keine anderweitigen Ursachen bestehen.
Einige Fachleute korrigieren die bei ihren eigenen Kindern vorhandenen Winkelfehlsichtigkeiten auch dann, wenn (noch) keine Auffälligkeiten bestehen. Die Erfahrung hat ihnen gezeigt, dass die vorsorgliche Korrektion der sinnvollere Weg ist. Eine “zu späte” Korrektion wird es in diesen Fällen nicht geben. Dieses Vorgehen wird aber nicht empfohlen. Zum einen würden viele Kinder mit einer Winkelfehlsichtigkeit eine Prismenbrille bekommen, ohne Auffälligkeiten zu haben. Zum anderen ist dieser Weg schon wegen der äußerst geringen Anzahl der Fachleute, die die MKH-Methodik nach den verbindlichen Richtlinien durchführen können, praktisch gar nicht möglich. Schlußbemerkung
Nach unseren durch Studien belegten Erfahrungen steht fest, dass sehr vielen der ungefähr 20 bis 40 in der Schule unerwartet (also trotz normaler oder überdurchschnittlicher Intelligenz) leistungsschwachen Kindern erheblich wirksamer als bisher geholffen werden könnte. Selbst berufspolitisch motivierte Kritiker dieser Prismenbrillen geben zu, dass die Erfolgsquote der MKH-Methodik bei etwa 65 liegt. Dabei ließen sich nicht nur die Schul- und Berufschancen vieler Kinder verbessern, sondern die erheblichen Summen für Fördermaßnahmen, Therapien, sonderpädagogische Betreuung und weiteres würden wesentlich effektiver eingesetzt werden können.